Gib hier den Code ein, den du erhalten hast:
Diese Spannung zwischen Herkunft und Sehnsucht zieht sich durch mein filmisches Denken. - Tereza Kotyk im Interview
Die in Prag geborene Regisseurin und Drehbuchautorin Tereza Kotyk feierte 2016 mit HOME IS HERE ihr Langfilmdebüt – ein Film über Zugehörigkeit, Entwurzelung und die Suche nach einem Zuhause, der auf diversen internationalen Filmfestivals gezeigt wurde. Mit NEBELKIND setzt sie diesen Erkundungen von Erinnerung und Identität eindrucksvoll fort. Der Film erzählt von drei Frauen, deren Leben über Generationen hinweg von den Nachwirkungen verdrängter Traumata geprägt ist – ein vielschichtiges, visuell starkes Werk über das Erbe der Vergangenheit und das Schweigen, das sie umgibt. Beide Filme sind im KINO VOD CLUB verfügbar. Im Interview spricht Tereza Kotyk über familiäre Prägungen, weibliche Perspektiven und die Herausforderung, Geschichte filmisch neu zu erzählen. Außerdem hat sie uns eine Kuratierung ihrer liebsten Filme aus unserem Repertoire vorbereitet.
NEBELKIND erzählt von Frauen, deren Leben über Generationen hinweg von Traumata und unausgesprochenen Geschichten geprägt sind. Wie hast du persönlich den Zugang zu diesen verborgenen familiären und historischen Ebenen gefunden?
Ich bin mit meinen Eltern Anfang der 1980er Jahre aus Tschechien nach Österreich geflüchtet. Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs wurde meiner Mutter das Haus meiner österreichischen Großmutter in Tschechien restituiert – ein Ort, der jahrzehntelang enteignet war und nun Stück für Stück wieder in unsere Familie zurückkehrte. Für mich stellte sich die Frage, was es bedeutet, wenn etwas Vergangenes, Fremdes und doch Eigenes plötzlich wieder Teil der Gegenwart wird. Diese Erfahrung war für mich der Ausgangspunkt von NEBELKIND – und zugleich eine sehr europäische Frage: Wie prägt uns Geschichte, und was davon tragen wir weiter?
In NEBELKIND geht es auch um das Schweigen über Gewalt – besonders über Gewalt gegen Frauen in Kriegs- und Nachkriegskontexten. Wie wichtig war es dir, dieses kollektive Schweigen filmisch zu brechen?
Das war mir sehr wichtig. Ich wollte bewusst aus der Perspektive von Frauen erzählen – einer Sicht, der wir uns seit Jahrzehnten verwehren. Unsere Vorstellung von „Geschichte“ entsteht meist über Täter, Führer, Soldaten, über Uniformen und Kriege. Dadurch wird Gewalt fast zur Gewohnheit – auch in der Art, wie wir sie erzählen. In NEBELKIND wollte ich das durchbrechen. Die drei Frauenfiguren stehen für jene, die Gewalt überlebt und trotzdem weitergetragen haben – emotional, körperlich, privat. Es geht darum, sichtbar zu machen, dass unsere Gegenwart nicht nur auf den Taten von Männern im Krieg beruht, sondern auf der Überlebensarbeit von Frauen, über die bis heute kaum gesprochen wird.
Du hast einmal gesagt, dass „die Grenze durch den eigenen Körper verläuft“. Welche Rolle spielt dieses Motiv der inneren und äußeren Grenze in deinem filmischen Denken – und insbesondere bei NEBELKIND?
Ich glaube, man erbt eine gewisse Zerrissenheit – durch das, was die Generationen vor uns erlebt haben. Das habe ich in meiner Recherche zum psychologischen Begriff „Nebelkind“ erkannt, aber auch bei mir selbst gespürt. Sobald eine persönliche oder geografische Grenze überschritten wird, verändert sich das eigene „Ich“ – es wird etwas anderes, als es hätte sein können. Diese Spannung zwischen Herkunft und Sehnsucht zieht sich durch mein filmisches Denken. Ich versuche mich dem filmisch immer wieder anzunähern, weil es letztlich ein so großes gesellschaftliches und kein rein persönliches Thema ist.
Die drei Frauenfiguren – Großmutter, Mutter, Tochter – stehen für verschiedene Formen des Überlebens. Gibt es eine Figur, der du dich persönlich am nächsten fühlst, oder tragen alle drei etwas von dir in sich?
Ich fühle mich Hannah am nächsten – wenn man das überhaupt so sagen kann. Sie lebt mit ihrer Zerrissenheit, ohne sie auflösen zu können, und das kommt mir sehr vertraut vor. In meiner Recherche habe ich gemerkt, dass dieses Gefühl viel mehr Menschen betrifft, als wir denken – gerade auch in Deutschland nach der Wende und mit dieser Geschichte, die weiterwirkt. Gleichzeitig glaube ich, dass wir die Summe aller Einzelteile sind. Manchmal erkennt man in sich selbst etwas wieder, das schon die Großmutter oder der Großvater getan oder gefühlt haben muss – und versteht plötzlich, dass man Teil einer viel längeren Bewegung ist.
In NEBELKIND verbinden sich Vergangenheit, Gegenwart und Erinnerung zu einem fließenden Zeitgefüge. Wie wichtig war es dir, diese nichtlineare Erzählweise zu wählen – und was sagt sie über das Vererben von Erfahrungen und Traumata aus?
Mir war diese nichtlineare Form sehr wichtig, weil sich Erfahrungen und Traumata immer wiederholen – solange wir uns ihnen nicht stellen. Sie bleiben gewissermaßen „in der Familie“. Diesen Kreislauf des Schweigens wollte ich sichtbar machen. Natürlich war das ein Bruch mit der klassischen Dramaturgie, aber das Risiko war es wert. Das Thema ist zu zentral, gerade für unsere Gesellschaft. Wenn wir den Erlebnissen von Frauen wirklich Raum und Anerkennung geben, schaffen wir ein Bewusstsein für Gleichstellung – und letztlich auch für Vielfalt und Demokratie.
Die Arbeit mit Wölfen ist filmisch außergewöhnlich. Wie bist du zu diesem Motiv gekommen – und was erzählen die Wölfe über die innere Welt von Hannah? Und welche Herausforderungen gab es bei den Dreharbeiten?
Der Wolf steht für innere Stärke und Wildheit – für die Freiheit, das eigene Leben unabhängig von Systemen oder Erwartungen zu leben. Auch diese Kraft, dieses Instinktive, werden über Generationen weitergegeben, nicht nur Traumata. Gleichzeitig ist der Wolf – wie auch der Wald – Träger einer Erinnerung. Beide sind Zeugen unserer Geschichte. Wenn Bäume sprechen könnten, würden sie uns von den Gräueltaten erzählen, die Europa erlebt hat. Martin Pollack nennt das eine „kontaminierte Landschaft“ – und genau darauf wollte ich hinweisen: Wir bewegen uns auf Böden, in Räumen und mit Tieren, die Erinnerungen in sich tragen. Aber ganz praktisch: Der Wolf war tatsächlich das einfachste Cast-Mitglied.
Viele deiner filmischen Mitarbeiterinnen – von Kamera bis Musik – sind Frauen. Entstand diese starke weibliche Perspektive bewusst, oder hat sie sich organisch aus dem Thema ergeben?
Es war keine bewusste Entscheidung im Sinne eines Konzepts, sondern eine natürliche Folge des Themas. Wenn man über weibliche Erfahrung, über Erinnerung und Weitergabe spricht, dann zieht das automatisch Menschen an, die sich dafür öffnen können. Das war in unserem Team spürbar – eine gemeinsame Haltung, die sich nicht aus Gender, sondern aus Empathie speiste.
Mit Eva Jantschitsch hast du eine bedeutende österreichische Musikerin für die Filmmusik gewinnen können. Wie verlief die Zusammenarbeit mit ihr?
Die Zusammenarbeit mit Eva war großartig. Sie hat ein unglaublich feines Gespür für Timing und Rhythmus – das merkt man sofort. Sie hat den Film mehrmals gesehen und wertvolles Feedback schon im Schnittprozess gegeben. Ich schätze an ihr besonders, dass sie als Musikerin intuitiv versteht, wo Emotion entsteht oder Raum braucht. Diese Art von Sensibilität – die oft in der Zusammenarbeit mit Frauen spürbar ist – war für diesen Film zentral.
In HOME IS HERE hast du dich bereits mit Fragen nach Zugehörigkeit und Identität auseinandergesetzt. Inwiefern siehst du eine Verbindung oder Weiterentwicklung dieser Themen in NEBELKIND?
Ich habe NEBELKIND tatsächlich schon während HOME IS HERE geschrieben. Anfangs hat es sich fast wie eine Fortsetzung mit der Figur Hannah angefühlt. Dann blieb das Projekt aber lange liegen – es gab viele Überarbeitungen, viele Absagen. Niemand wollte sich wirklich auf das Thema einlassen, obwohl fast jedes Gegenüber eine eigene, ähnliche Geschichte in der Familie hatte. Aber das Schweigen darüber war stärker. Irgendwann hatte ich das Gefühl: genau deshalb muss der Film gemacht werden.
Gibt es bereits Pläne für das nächste Filmprojekt? Worauf dürfen wir uns in Zukunft freuen?
Ja, ich arbeite gerade an mehreren sehr unterschiedlichen Projekten gleichzeitig – damit der nächste Film nicht wieder so lange auf sich warten lässt. Es sind neue Themen, aber ich muss zugeben: „Grenzthemen“, im metaphorischen Sinne, faszinieren mich nach wie vor.
In ihrer Kuratierung stellt uns Tereza Kotyk außerdem ihre liebsten Filme aus dem KINO VOD CLUB vor.